Religions- und Werteunterrichte in den Bundesländern und speziell das Hamburger Modell des Religionsunterrichts für alle

von Gisela Schröder

Impulsvortrag zur Podiumsdiskussion
auf dem Deutschen Humanistentag 2019
in Hamburg

 

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Guten Tag, meine verehrten Gäste!

Ich begrüße Sie zu unserer Podiumsdiskussion und freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind.

Ich bin Gisela Schröder von der Giordano-Bruno-Stiftung Hamburg und engagiere mich im Arbeitskreis Werteunterricht des Säkularen Forums Hamburg. An dieser Stelle möchte ich allen Mitgliedern des Arbeitskreises für die Mitarbeit an meinem Vortrag danken. – Übrigens, jeder von Ihnen, der Lust und Interesse hat, ist in unserem Arbeitskreis herzlich willkommen. Nebenbei bemerkt soll der Vortrag auf der Webseite des Säkularen Forums veröffentlicht werden.

Als Humanistin verwende ich das generische Geschlecht, mit dem alle Menschen gemeint sind. Ich möchte nicht die Menschen diskriminieren, die sich weder als männlich noch als weiblich bezeichnen wollen. Darüber hinaus dient es sogar noch der Einfachheit.

 

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Zum Einstieg in die folgende Diskussion werde ich Ihnen kurz erläutern, wie unterschiedlich die einzelnen Bundesländer den Religionsunterricht und möglicherweise auch einen alternativen Werteunterricht eingeführt haben und wie es sich mit den Teilnehmerzahlen bei diesen Unterrichten verhält.

Dann stelle ich Ihnen die besondere Situation in Hamburg dar, dasHamburger Modell des Religionsunterrichts für alle, und was daran zu kritisieren ist. Zum Schluss werde ich das gerade laufende Pilotprojekt zur Erweiterung dieses Modells vorstellen, und auch dazu gibt es Kritik.

 

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Das Grundgesetz schreibt den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach vor, der in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt werden muss,

 

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 mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen (leider gibt es solche Schulen in Deutschland noch nicht).

 

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Zudem können die Eltern bestimmen, dass ihre Kinder nicht am Religionsunterricht teilnehmen.

 

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Und schließlich gibt es die sogenannte Bremer Klausel, weswegen Bremen und Berlin und gewissermaßen auch Brandenburg Religion als Bekenntnisunterricht nicht als ordentliches Lehrfach anbieten. Übrigens fordert das Grundgesetz für die Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, keinen alternativen Unterricht.

 

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Schauen wir uns die Situation in den verschiedenen Bundesländern an:

Drei der gelben Bundesländer berufen sich auf die Bremer Klausel und haben je ihr eigenes Sondermodell, und auch Hamburg hat sein eigenes Modell. Die blauen Länder bieten schon in der Primarstufe, also in den Klassen 1 bis 4 der Grundschule, für Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, die Alternative Ethik oder Philosophie. Die lila Länder bieten in der Primarstufe keinen bzw. noch keinen alternativen Werteunterricht an. In Nordrhein-Westfalen wird gerade an der Einführung zum Schuljahr 2020/2021 gearbeitet. Abgesehen von den Ländern mit ihren Sondermodellen bieten die meisten Länder außer katholischem und evangelischem noch andere Religionsunterrichte an, z. B. jüdischen, islamischen, alevitischen und/oder orthodoxen.

In der Sekundarstufe I, also den Klassen 5 bis 10, sieht die Situation ähnlich aus. Auch hier gibt es wieder die vier Sondermodelle. Zwar bieten jetzt alle übrigen Länder einen alternativen Werteunterricht an, Baden-Württemberg allerdings erst ab Klasse 7.

Für die verschiedenen Religions- und Werteunterrichte teilen sich die Schüler einer Klasse auf. Einen gemeinsamen Werteunterricht im Klassenverband als Pflichtfach gibt es nur in Berlin, und hier auch erst in den Klassen 7 bis 10.

 

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Interessant für Sie dürfte die prozentuale Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Religionsunterrichte und den Werteunterricht sein.

Dieses Diagramm stellt die Verhältnisse vierer Bundesländer durch jeweils drei Säulen dar.

Die erste Säule für die Primarstufe und die zweite Säule für die Sekundarstufe I zeigen die prozentuale Verteilung der Schüler an den Unterrichten, schwarz für katholischen Religionsunterricht, lila für evangelischen, grün für islamischen, gelb für sonstigen und mittelblau für Werteunterricht. Hellblau ist der Anteil derer, die an keinem dieser Unterrichte teilnehmen. Die Gründe dafür sind nicht nur die Abmeldungen, sondern auch Lehrermangel, zu geringe Teilnehmerzahlen, laut Stundentafel mögliche Stundenpläne ohne Religionsunterricht, Vorbereitungsklassen für Migranten ohne Religionsunterricht.

Die dritte Säule zeigt zum Vergleich die Zusammensetzung der Bevölkerung: schwarz katholisch, lila evangelisch, hellblau der Rest. Der Rest sind hauptsächlich Konfessionsfreie.

Bei den hier gezeigten Bundesländern stimmt die Teilnahme am Religions- und dem Werteunterricht relativ gut mit der Zusammensetzung der Bevölkerung überein. In den übrigen Bundesländern Süd-, Südwest- und Ostdeutschland>s liegen die Verhältnisse ähnlich.

 

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Die nördlichen Bundesländer dagegen bieten ein sehr heterogenes Bild. Bremen fällt auf mit seinem staatlichen, bekenntnismäßig nicht gebundenen Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage. Und Hamburg fällt auf mit seinem besonderen Weg, dem Religionsunterricht für alle. Darauf möchte ich jetzt näher eingehen.

 

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Hamburg hat eine lange Tradition als evangelische Stadt, bis zum ersten Weltkrieg waren über 90 % der Hamburger evangelisch, und noch 1950 waren es rund 80 %. Daher ist es erklärlich, dass der Religionsunterricht allein von der evangelischen Kirche verantwortet wird. Wegen der katholischen Privatschulen ist der Anteil der katholischen Schüler an den staatlichen Schulen relativ klein, so dass ein Versuch, katholischen Religionsunterricht einzuführen, wegen der geringen Teilnehmerzahlen inzwischen wieder eingestellt wurde.

Seit 1950 hat sich die Bevölkerungszusammensetzung grundlegend verändert. Ende 2017 gehörten nur noch rund 25 % der Bevölkerung der evangelischen Kirche an, rund 11 % der katholischen Kirche, der Anteil der Muslime wird auf rund 8 % geschätzt. Der Anteil der Mitglieder der übrigen Religionsgemeinschaften liegt im kleinen einstelligen Bereich. Insgesamt zählt man in Hamburg über 100 Religionsgemeinschaften. Die größte Gruppe mit über 50 % stellen heute die Konfessionsfreien dar.

 

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Vor diesem Hintergrund hat die evangelische Kirche den von ihr allein verantworteten Bekenntnisunterricht gemäß Grundgesetz für Schüler anderer Konfessionen und für Konfessionsfreie geöffnet als „Religionsunterricht für alle in Verantwortung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland“, kurz RUFA. Er wurde bald als „dialogischer“ Unterricht konzipiert, um die Schüler der verschiedenen Glaubensrichtungen in einen Dialog miteinander treten zu lassen. Das Besondere ist, dass der RUFA in jeder der Klassen 1-6 gemeinsam für alle Schüler einer Klasse im Klassenverband stattfindet, danach ist er Wahlpflichtfach mit Philosophie als Alternative.

 

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Formal ist der RUFA in dreierlei Hinsicht zu kritisieren:

Erstens werden die Eltern der Schulanfänger nur selten über ihr Recht informiert, dass sie ihre Kinder vom Religionsunterricht abmelden können. Zum Teil gehen Schulleiter sogar davon aus, dass der RUFA für alle Schüler verbindlich sei.

Zweitens ist für abgemeldete Schüler kein entsprechender alternativer Unterricht vorgesehen.

Drittens wird es den Konfessionsfreien verwehrt, an der Gestaltung des Religionsunterrichts für alle mitzuwirken, obwohl mehr als die Hälfte aller Hamburger konfessionsfrei ist.

 

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Auch vom Inhalt her ist der RUFA zu kritisieren. Die Hamburger Bildungspläne Religion für Grundschule, Stadtteilschule und Gymnasium erklären gleichlautend, dass der Religionsunterricht die Schüler „zur Begegnung und Auseinandersetzung mit den verschiedenen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen [führt], die unser heutiges Leben bestimmen“.

Aber davon ist im Folgenden nicht mehr die Rede. Im Gegenteil:

„Als Antwort auf die zunehmende Säkularisierung und Pluralisierung von Gesellschaft und Schülerschaft“ wird im Religionsunterricht als eine Grundhaltung „die Bereitschaft und Fähigkeit aller Beteiligten gefördert, sich in der Begegnung und Auseinandersetzung mit religiösen Zeugnissen auf die mit ihnen verbundene Rede von Gott, vom Heiligen, von einer transzendenten Wirklichkeit und von unbedingten Geltungsansprüchen einzulassen“.

Auch soll „der Begegnung und Auseinandersetzung mit christlichen Überlieferungen und Glaubensäußerungen besondere Bedeutung“ zukommen.

Damit kann es kein Religionsunterricht für alle, sondern nur für alle Gläubigen sein, was auch durch die Konkretisierungen bestätigt wird:

Denn die Anforderungen an Wahrnehmungs-, Deutungs- und Urteilskompetenz werden praktisch nur in religiösem Zusammenhang beschrieben, und als Beispiele werden praktisch nur Texte aus Heiligen Schriften oder Propheten oder Lehrer der Religionen angeführt.

Die Grundlagen unserer heutigen demokratischen Gesellschaft, nämlich Humanismus, Aufklärung und Menschenrechte, werden in den Bildungsplänen überhaupt nicht erwähnt. Es kommen auch nur Schöpfungsmythen vor, die Evolutionslehre dagegen nicht.

Als wichtiger Unterrichtsbestandteil für Konfessionsfreie fehlt auch die Religionskritik.

 

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Inzwischen soll der RUFA erweitert werden, so dass er nicht nur allein von der evangelischen Nordkirche, sondern in gleichberechtigter Verantwortung gemeinsam von inzwischen vier Partnern gestaltet werden soll, mit denen Hamburg entsprechende Verträge geschlossen hat. Das sind die evangelische Nordkirche, die drei islamischen Religionsverbände DITIB, SCHURA und VIKZ, die sich intern abstimmen müssen, die Alevitische Gemeinde Deutschland und die Jüdische Gemeinde Hamburg. Dabei sollen die übrigen Merkmale des RUFA erhalten bleiben. Insbesondere soll es nach wie vor ein grundgesetzkonformer Bekenntnisunterricht sein. Nach Aussage des Bundesverfassungsgerichts bedeutet das, dass die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft als bestehende Wahrheiten vermittelt werden müssen.

Bereits im Schuljahr 2015/16 startete ein Pilotversuch in elf fünften und sechsten Klassen zweier Hamburger Stadtteilschulen. Das Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung bestellte vier Experten aus dem Bereich der Religionspädagogik – alevitisch, muslimisch, katholisch und evangelisch – als Gutachter und wertete auch selbst durch Fragebögen und Gespräche das erste Jahr des Pilotversuchs aus. Der Evaluationsbericht wurde letztes Jahr veröffentlicht.

 

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Auch das Pilotprojekt ist zu kritisieren. Die drei wichtigsten Punkte möchte ich Ihnen nennen:

Erstens: In den Expertengutachten im Evaluationsbericht wird mehrfach auf die mangelhafte Berücksichtigung der konfessionsfreien Schüler hingewiesen.

Zweitens beurteilten die Experten etliche Unterrichtsschritte als nicht durchführbar für konfessionsfreie Schüler.

Drittens stellten die Experten sogar Verstöße gegen das Überwältigungsverbot fest.

Neuere Curricula sind der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich.

 

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Leider ist der Evaluationsbericht selbst nicht frei von Geringschätzung der Konfessionsfreien:

Nämlich: 15 % der am Pilotprojekt teilnehmenden Schüler waren konfessionsfrei, und dieser Anteil wird als „fast verschwindend geringer Anteil“ bezeichnet.

Zudem wird die Erklärung einzelner Schüler, dass sie bewusst keine Religion hätten, nicht als Begründung für ihre geringere Mitarbeit akzeptiert, sondern als Vorwand interpretiert.

Überdies wird es im Evaluationsbericht „als Chance gesehen, dass durch das Hamburger Konzept des Religionsunterrichts für alle auch nicht-religiöse Schüler und Schülerinnen mit 'grundlegenden Religionsfragen' in Berührung kommen – statt ausschließlich Ethik-Unterricht zu besuchen. Hierdurch könnten sie etwas von Religionen für sich persönlich lernen.“ – Das klingt nach Missionierung.

 

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Insgesamt gesehen meine ich, dass der RUFA das Neutralitätsgebot des Staates verletzt.

Denn die Schulbehörde fördert die Teilnahme der Konfessionsfreien am RUFA, lässt aber ihre Benachteiligung gegenüber den Religiösen zu.

Zur Einschulung verteilt sie eine Informationsbroschüre an alle Eltern, in der sie verspricht, dass die Kinder im Religionsunterricht „lernen, eigene Traditionen und deren Wertvorstellungen besser zu verstehen.“ Dieses Versprechen löst sie bei den konfessionsfreien Kindern nicht ein.

 

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Und damit übergebe ich das Wort an Herrn Lührs, den Leiter der Podiumsdiskussion.

 

 

Quellenangaben

zu den Folien und den dazugehörigen Texten

Zu Folie 7 (Modelle in der Primarstufe):

Zu Folie 8 (Religions-/Werteunterricht und Bevölkerung, nicht-nördliche Bundesländer):

Zu Folie 9 (Religions-/Werteunterricht und Bevölkerung, nördliche Bundesländer):

Zu Folie 10 (Religionsunterricht in Hamburg):

Zu Folie 13 (RUFA – Religionsunterricht für alle: Inhaltliche Kritik an den Bildungsplänen):

Zu Folie 14 (RUFA – Religionsunterricht für alle: Pilotprojekt):

Zu Folie 15 (RUFA – Religionsunterricht für alle: Expertenkritik am Pilotprojekt):

Zu Folie 16 (RUFA – Religionsunterricht für alle: Kritik am Evaluationsbericht):

Zu Folie 17 (RUFA – Religionsunterricht für alle: Fazit):